Damals bei Moshé in Freiburg - Stefanie Betschart

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Feldenkrais
 
 

Damals bei Moshé in Freiburg

oder: Let yourself be surprised.


Ein Stimmungsbericht von
Stefanie Betschart, 25. April 1999

Ich habe keine Ahnung, warum heute die Erinnerung an jenen Workshop vor 18 Jahren so klar aufgetaucht ist. Ich bin eine Stunde lang in ziemlich flottem Tempo einem Bach ent-lang marschiert und habe mich über die Leichtigkeit der Bewegung, die Sonne, die Früh-lingswiesen, das Gezwitscher der Vögel und das Geplätscher des Wassers gefreut, und dann waren diese Erinnerungen und Formulierungen plötzlich auch am Plätschern. Ganz selbstverständlich setzte ich mich zuhause an den PC und begann zu schreiben. Ich hatte eigentlich ganz anderes vor und überhaupt noch nie daran gedacht, diese Dinge aufzu-schreiben, geschweige denn dieses Aufgeschreibse anderen zugänglich zu machen. Es ist eine echte Überraschung für mich, dass ich das mache. Für Euch, die Leserinnen und Leser, ist wohl der Inhalt teilweise überraschend. Er ist selbstverständlich absolut subjek-tiv, ohne Anspruch auf Exaktheit, ein Stimmungsbild.


Im November 1980 begann ich die Ausbildung in Gentle Dance bei John Graham, Frank Hatch und Lenny Mayetta in Zürich. Die drei redeten täglich von einem gewissen Moshé Feldenkrais. Meine Schwester hatte mir vor ein paar Jahren ein Buch dieses Mannes in die Hand gedrückt, aber viel war davon nicht hängen geblieben. Nun wurde der Name immer bedeutungsvoller, und Ich bekam den Eindruck, dass Lenny, Frank und John sehr vertraut mit diesem Mann und seiner Methode sein mussten. Erst viel später erfuhr ich, dass sie damals in Amherst das Training begonnen hatten und dass nur John dieses be-endete. Wir kriegten also sozusagen frisch ab Presse Moshés Ideen verklickert, manch-mal als solche deklariert, manchmal auch nicht.

Wie dem auch sei, dank diesen dreien landete ich im Frühling 81 in Moshés Workshop in Freiburg (D): 10 Tage um Ostern herum. Ort des Geschehens: eine Universitätsturnhalle. Der Zugang zur Halle führte über eine Galerie, von der aus man den Raum überblicken konnte: Das Nachtlager von Granada (Ich habe ab und zu etwas absonderliche Assoziati-onen). Von der Standard-Plastikmatte über die alternative Handwebdecke bis zum Orient-teppich war alles vorhanden, säuberlich aufgereiht und in enormer Menge. So zwischen 250 und 300 Stück. Ich dachte, ich sei im falschen Film. Dass der Film genau richtig war, merkte ich erst später. Einer von Johns Leitsprüchen half mir, mich in dieses Feldenkrais-Lager einzuschlaufen: "Let yourself be surprised!" Da die Liegeplätze schon ziemlich aus-gebucht waren, landete ich fürs erste ungefähr in Reihe 27. Dislozierte dann aber bald in eine andere Region: den Goal-Raum 3 Matratzenlängen hinter Moshés Rücken. Das er-wies sich als sehr glückliche Wahl, denn erstens geriet ich da in eine kleine Gruppe, in der ich mich sehr wohl fühlte, und zweitens hatte Moshé die Angewohnheit, sich nicht umzu-drehen. Ich hatte schnell gemerkt, dass es mir nicht gut bekommen würde, zu direkt in seinem Blickfeld zu liegen. Dieses erstreckte sich wohlverstanden über die ganze riesige Halle vor ihm. Vor allem die ganz hingebungsvollen weiblichen Fans, die sich mit glänzen-den Augen zu seinen Füssen lagerten, kriegten einiges ab, was ich nicht haben wollte. Ich blieb die ganzen 10 Tage hinter des Meisters Rücken, ausgenommen in dein Moment, wo ich ihm trotz aller Skepsis "Body and Mature Behaviour" zum signieren gab. Wenn schon, denn schon.

A propos Meister: Er vermittelte unmissverständlich, dass er unantastbar und unbestritten der Boss war, bewahrte aber die Anwesenden vor einem allzu verklärten Bild, indem er sich ab und zu mit grossem Gepolter vom Podest hinunterstürzte, das ihm seine Verehrerinnen und Verehrer zugedacht hatten.
Das ging zum Beispiel so:
Moshé mit seinem unvergleichlichen Akzent: "Kommen Sie alle her schauen. Sie, die Dame im rotten Pullover. Machen Sie die Bewegungg ." Die Dame im roten Pullover lächelt stolz und etwas verlegen, schliesslich schauen ca. 300 Leute auf sie herunter, und macht die Bewegung. Moshé:" Uu-ääh! Schrecklich!" Und er bedeckt die Augen mit der Hand und wendet sich ab, als habe er etwas sehr Unappetitliches gesehen.

Dann erklärt er wortreich, dass wir aus Fehlern lernen, dass wir Erfahrungen machen sollen und dass die Dame im roten Pullover in ein paar Tagen mehr lernen wird als wir andern alle zusammen. Aber die besagte Dame heult schon längst, und sie wird nicht die einzige bleiben. Durchschnittlich 2 oder 3 Teilnehmerinnen (ich glaube, es waren tatsächlich immer Frauen) pro Tag werden mit ähnlicher Aufmerksamkeit von Moshé bedacht.
"Warum haben Sie so spitze Fisse? Sind Sie Tänzerin?" fragt Moshé während einer ATM in Bauchlage, in der die Unterschenkel senkrecht aufgerichtet waren. Die Frau bejaht. Der Knalleffekt kommt 3 Tage später, als Moshé verkündet: "Sehen Sie, alle haben das wunderbar gelernt. Sogar die Dame mit dem Tänzer-Gehirn." Ich glaube, er sagte sogar "mit dem idiotischen Tänzergehirn".
Eine andere Teilnehmerin fragte er:" Was arbeiten Sie?" "Ich bin Turnlehrerin", lächelt sie erfreut (es gibt immer noch unentwegte, die sich über seine Aufmerksamkeit freuen). Moshé: "Was?! Sie machen Kinder kaputt?!!!"

Dass er im Prinzip recht hatte, änderte nichts daran, dass ich ihn ziemlich unmöglich fand und mir sicher war, niemals bei ihm diese Ausbildung zu machen.
Er behielt auch recht, als er einem älteren Mann, der kaum auf dem Fussboden sitzen konnte, erklärte: "Am Ende dieses Kurses werden Sie sich den Fuss auf den Kopf legen können. Und zwar mit Leichtigkeit."

Er behielt auch recht, als er sich daran machte, einem cerebral gelähmten Kind mit sehr spastischen Händen eine FI zu geben und dabei bemerkte: "Ich werde ihn lehren zu greifen." Genau das tat er. In 1 Stunde. Am Ende der Stunde kniff das Kind gezielt und quietschend vor Vergnügen Moshé in die Nase. Die beiden hatten einen Riesenspass zusammen. Überhaupt schien er im Umgang mit Kindern ein anderer Mensch. Ein Mädchen von etwa 6 Jahren, dessen Eltern offenbar Moshé überall hin nachreisten, damit er mit ihm arbeiten konnte, hatte vor kurzem gelernt, aufrecht zu sitzen. Jetzt thronte es auf den Schultern des Vaters und strahlte, wenn es Moshé von weitem sah und streckte die Arme nach ihm aus. Und er strahlte auch. "Nicht der Schatten eines Schmerzes darf auf ein Kind treffen, wenn ich mit ihm arbeite", sagte er uns.
Moshé redete viel. Häufig von Dingen, die vordergründig nichts mit den ATM's oder direkt mit seiner Methode zu tun hatten. Eines seiner Lieblingsthemen war die Frage, wer Feldenkrais-Lehrer ausbilden dürfe. Nämlich ausschliesslich er selbst. Und er versicherte, dass er sein ganzes Geld in Anwaltskosten investieren würde, um das durchzusetzen. Niemand zweifelte daran.

Wesentlich amüsanter fand ich's, wenn er hemmungs- und gnadenlos über Psycho-analyse und Psychotherapie herzog. Mir kamen diese Attacken bis zu einem gewissen Grad entgegen, da ich ein Therapie-Muffel bin. Allerdings dauerten mir die Tiraden zu lange. Manche Kursteilnehmer ärgerten sich begreiflicherweise gewaltig . Einige gingen jeweils eine halbe Stunde spazieren, wenn er wieder mit dem Thema anfing. Aber sie kamen getreulich zurück. Er hielt alle 300 bei der Stange. Und das im Alleingang und 10 Tage lang.
Einige beschwerten sich eines Tages, dass er zuviel rede. Sie seien gekommen, um ATM's zu machen. Moshé nahm's erstaunlich gelassen zur Kenntnis und die Reklamierenden beim Wort. Drei Tage lang zog er seine ATM's durch ohne eine einzige Anekdote oder sonstige verbale Ausflüge. Danach waren die meisten nudelfertig und wünschten sich sehnlichst wieder mal ein sprachliches Intermezzo.

Ich weiss bis heute nicht, wie viel Berechnung hinter seinen Stories war, deren Zusammenhang zu seiner Methode ich damals oft nicht sehen konnte. War er ab und zu einfach ein Schwätzer, oder hatte das Methode? Hinderte er uns mit seinem Gerede am Abdriften und gönnte uns gleichzeitig eine Verdauungsphase? Wollte er sehen, wie wir uns verhielten? Einmal begann er einen längeren Exkurs, als wir in einer ziemlich vertrackten Position lagen, und stellte dann trocken fest, dass einige so blöd seien, immer noch in dieser Position auszuharren, obwohl die mit Sicherheit nicht mehr bequem sei. Das lieferte ihm gleich weiteren Redestoff.

Ein paar Dinge, die Moshé sagte, gefielen mir auch ausnehmend gut, z.B. seine Frage an einen Mann: "Haben Sie einen Brustkasten oder einen Brustkorb?" Oder die Aufforderung: "Erwacht aus Euren Tagträumen und realisiert sie!"

Verbale Ausschweifungen hin oder her, mir ging es immer besser während dieser 10 Tage. Ich verpasste keine Minute des Unterrichts und fühlte mich beweglich wie seit Jahren nicht mehr. Überrascht fand ich mich eines Tages in der Hocke mit flachen Füssen. Eine Position, von der ich überzeugt gewesen war, sie nie wieder im Leben einnehmen zu können, da ich durch einen Unfall ein eingeschränktes Fussgelenk habe. Das hatte und habe ich noch immer. Aber mit meinem Rücken, mit meinem Brustkorb etc. war und ist einiges sehr anders. Ich hatte während der ganzen 10 Tage auch wahre Energieschübe, war putzmunter und unternehmungslustig. Wenn wir nach dem Kurs in die Stadt gingen, hüpften wir über die Wassergräben (typisch für Freiburg), balancierten auf Mäuerchen und benahmen uns unmöglich im Restaurant. War diese Reaktion auf meine damalige relative Unbedarftheit in Sachen "Gschpüri-Zügs" zurückzuführen? Musste ich mich austoben nach soviel Beschäftigung mit mir selbst? Oder war es Moshés Unterrichtsstil? Leider ist eines der beiden Hefte, die ich eifrig mit Notizen füllte, verloren gegangen. Aber ich erinnere mich an recht verwegene Bewegungsabläufe, ab und zu vorgestellte Bewegungen, kaum an Minimal-Bewegungen. Das verbliebene Heft werde ich mir vorknöpfen und durcharbeiten.

Keine Notizen habe ich von meiner ersten Fl, die ich mir ergatterte. Ich hätte wohl gar nicht gewusst, was aufschreiben. Ich erwischte Edna. Und sie erwischte mich, allerdings in anderer Hinsicht. "Was willst Du?", fragte sie mich. Ich war platt. Das musste doch sie wissen. Bisher hatten alle, denen ich in die Finger geraten war, gemeint zu wissen, was für mich gut war, daher vielleicht meine Therapie-Phobie. Edna wusste es nicht. Das fand ich höchst interessant und verwirrlich. Ich erzählte ihr natürlich von meinem zertrümmerten linken Fussgelenk. Zu meinem Erstaunen wandte sie sich meinem rechten Bein zu. Sie muss meine Gedanken erraten haben, denn sie sagte: "Dieses Bein hat in den letzten Jahren zuviel arbeiten müssen." Gegen Ende der FI kam doch noch das linke Bein dran. Ednas Kommentar: "Ich habe ihm gesagt, es soll mehr Gewicht übernehmen." Hoffentlich hatte mein Bein das gehört. An andere Einzelheiten oder an eine spezifische Wirkung kann ich mich nicht erinnern. Aber diese zwei Bemerkungen vermittelten mir eine neue Sichtweise. Unsere FI fand hinten in der riesigen Halle statt. Moshé begann den Unterricht, während ich noch auf der Liege war, und zwar mit sehr temperamentvollen und lautstarken Ausführungen zu was weiss ich was. Edna schüttelte sachte den Kopf und murmelte: "Oh come on, Moshé". Sie war wirklich sehr sympathisch.

Damals lernte ich auch Edward Dwelle kennen. Ein rühriger Zürcher Psychologe, der sich offenbar von Moshés Attacken nicht hatte irritieren lassen, suchte alle interessierten Schweizerinnen und Schweizer zusammen, um mit der Feldenkrais-Arbeit in Zürich weiterzufahren, und zwar mit Ned (so hiess er damals noch). Ich war dabei. Und zwar so gründlich, dass ich nach etwa 2 Jahren das Management übernahm. Ned schubste mich sachte und beharrlich in Richtung Ausbildung. Ein paar Jahre lang gab er mir genau die Unterstützung, die ich brauchte. 1986 fing ich dann bei Chava an. Im Freiamt bei Freiburg.

Zum Schluss noch eine Moshé Episode, die ich in allen Details präsent habe: Am letzten Tag des Workshops gab uns Moshé die Aufgabe, uns einige Bewegungen in Erinnerung zu rufen. Wir sollten uns in die verschiedenen Ausgangspositionen begeben und sehen, was dann aus dem Gedächtnis auftaucht. Er verliess seine Lederbank, einen niedrigen Turnbock, auf dem er meist sass, und schlurfte hinaus. Dann war eine Weile Ruhe. Umso eindrücklicher war dann das Plätschern, das über die Lautsprecher den Raum füllte, gefolgt vom Rauschen der Wasserspülung des Klos. Einen Moment herrschte verblüffte Ruhe, dann brachen wir in schallendes Gelächter aus. Moshé kam zurück. Sein verschmitztes Gesicht war der einzige Kommentar. Er freute sich offenbar diebisch über den geglückten Überraschungs-Coup.

Was mich im Moment erstaunt, ist die Lebendigkeit der Erinnerung an Moshé. Ich merke es, wenn ich seine Texte lese, Kassetten höre, die Notizen durchgehe: Die Stimme, der Akzent, der Tonfall. die prägnante Ausdrucksweise, die Mimik. sein listiger Blick, die ausdrucksstarken Gesten, die Bewegungen seines kurzen, massigen Körpers - alles ist noch präsent. Jetzt, nach 18 Jahren. habe ich diese Erinnerungen aufgeschrieben, ohne ersichtlichen Anlass, mit viel Vergnügen und sehr froh, dass ich diesen sehr speziellen alten Mann persönlich erlebt habe. Wie stark und wie positiv er mein Leben beeinflussen würde, ahnte ich nicht. Das ist die grosse Überraschung.


Dieser Nachdruck aus dem SFV-Journal Nr. 5 (Frühling 2000) wurde publiziert
zum 100. Geburtstag von Moshé Feldenkrais am 6. Mai 2004

 
 
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